Wort des Tages – Gedanken über die Leidensgeschichte
In den nächsten Tagen sollen an dieser Stelle Teile aus dem Osterpfarrbrief von 2010 als Serie veröffentlicht werden. Es handelte sich dabei sozusagen um eine Sondernummer für Ostern. Im Mittelpunkt stehen die Personen, die in der Leidensgeschichte vorkommen und in den letzten Stunden im Leben Jesu eine Rolle spielten.
In diese Tagen wollen wir also gemeinsam auf die wichtigsten beteiligten Personen in der Leidensgeschichte blicken, ihr Tun betrachten und dabei als Vorbereitung auf das Osterfest einen ehrlichen Blick auf uns selber – nicht auf die anderen, die wir bestimmt viel leichter zuordnen können – werfen und uns fragen: Wer bin ich in der Leidensgeschichte? Welcher Figur entspreche ich mit meinem derzeitigen Leben am meisten? Dazu sind vielleicht folgende Vorüberlegungen hilfreich:
Die Heilige Schrift hat eine Gültigkeit für alle Jahrhunderte, alle Epochen, für alle Menschen. Die Geschichten, die Situationen, das Glück und Elend, die Not und Freude sind zu allen Zeiten dieselben. Dasselbe gilt in gewisser Weise auch für die Personen, die in der Bibel vorkommen. Sie sind nicht nur reale, authentische Menschen, von deren Verhältnis zu Gott, deren Rolle im Heilsplan des Höchsten uns erzählt wird, sondern haben darüber hinaus auch einen zeitlosen Charakter. Sie stehen bildhaft für die Menschen zu allen Zeiten. Ihre Handlungen und Haltungen wiederholen sich bis in unsere Zeit. Wenn wir genau hinschauen, können wir uns in ihnen wiedererkennen.
Gerade zu den hohen Festtagen im Kirchenjahr besteht die große Gefahr, dem, was wir schon seit Jahren kennen, kaum noch Beachtung schenken. Die Kreuzwegstationen, die Passion – alles ist uns irgendwie schon so vertraut. Die Versuchung ist groß, einfach abzuschalten, anstatt sich ernstlich zu fragen, was denn die Leidensgeschichte mit meinem eigenen Leben zu tun hat. So sollen auch die folgenden Artikel über Judas, Pilatus, die schreiende Menge, die Schriftgelehrten, den Apostel Petrus, Veronika und Simon von Cyrene, die beiden Schächer, den römischen Hauptmann und Johannes und Maria unter dem Kreuz nicht nur mit der Intention gelesen werden, etwas über besagte Personen zu erfahren, sondern auch etwas über sich selbst. Manchmal wird es vielleicht weh tun. Möglicherweise wird man sich in einer anderen Figur wiederfinden als man es gerne hätte. Manches ist vielleicht nicht so schwarz-weiß, wie wir es uns vorstellen. Vielleicht sind wir bei der Betrachtung der biblischen Charaktere immer nur an der Oberfläche stecken geblieben, sind nie in die Tiefe gegangen, haben nie nach dem Menschen hinter einer bestimmten Handlung gefragt oder manches einseitig betont, so wie im richtigen Leben auch.
Anhand der beschriebenen Personen gehen wir den Weg nach Ostern. Wir schauen auf ihre Tugenden und Laster und auf die unsrigen. Wir kennen sie aus unserem Leben: die Verräter und Verleugner, die Schreier und die Spötter, manchmal nur zu gut, weil wir es selbst sind. Und doch gibt es auch die anderen: die Helfer, die Bekenner, die Mitleidenden, die uns Vorbilder sind, deren Nachahmung uns manchmal mehr, manchmal weniger gelingt, und die uns eine Ahnung vermitteln vom nachösterlichen, vom erlösten Menschen.
Ein altes Sprichwort heißt: Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Besser wird es dann, wenn wir uns ganz konkret an die Personen halten, die Jesus ganz nahe sind, von ihnen müssen wir lernen, an der Seite Jesu zu gehen, auch den Kreuzweg – seinen, den der Kirche und unseren.
Besser wird es auch, wenn wir den „alten Menschen“ in uns zurücklassen, ihn sterben lassen, damit die Ostergnade auch in unserem Leben wirksam werden kann. Wer wie Petrus über sein Versagen weint, der wird auch wie er dem Auferstandenen begegnen und eine tiefe Osterfreude erfahren. Mögen diese Betrachtungen eine Hilfe sein auf dem Weg nach Ostern.